Leseprobe zum Buch

Abfahrt Wien am 13.05.2007

Praefatio

 

Wie das alles so kam:

  29.12.2006, mein letzter, sogar allerletzter Arbeitstag nach 35 Jahren im Unternehmen. Im selben Unternehmen? Na ja, prinzipiell schon. Nur durch Änderung der Gesellschaftsform, eine Mehrzahl von Fusionen und in der Folge mehrmaliger Eigentümerwechsel sowie wegen der oftmaligen Firmenwortlautänderung ist eigentlich von dem seinerzeitigen Unternehmen nichts mehr geblieben.

  Panta rei, oder wie es ein lieber Kollege in profaneren Worten einmal treffend auf den Punkt gebracht hat: „Die Firma, in die ich seinerzeit eingetreten bin, gibt es nicht mehr, und in das Unternehmen, in dem ich heute arbeite, wäre ich …“

  Weg vom Tisch, tabula rasa, aus, vorbei. Neue Wege sind zu beschreiten. Wozu habe ich dermaßen viele Interessen, die bis jetzt immer hintanstehen mussten und aufgeschoben wurden. Nach dem Motto: „Das mache ich irgendwann einmal – ja, wenn ich einmal im Ruhestand bin, dann …“

  Wozu habe ich die to-do-Liste, nein, falsch, die to-want-and-to-do-Liste bereits seit geraumer Zeit angelegt und laufend ergänzt? Es sind ja Dinge und Tätigkeiten, auf die ich mich gefreut habe, denen ich mich endlich im gewünschten Maß widmen und für die ich mir Zeit nehmen kann, nicht wie bisher aus Zeitmangel immer nur husch, husch … zu erledigen.

  Ja, das ist die Ratio! Da gibt es aber auch noch ein Unterbewusstsein. Und obwohl ich mich weniger als zwei Wochen nach dem 29.12.2006 für mehr als drei Monate über den Großen Teich ins sonnig warme Florida verabschiedet habe, war dieses Unterbewusstsein im Handgepäck. Und da kamen Dinge, vorzugsweise, nein, in dieser ausgeprägten Form ausschließlich bei Nacht im Schlaf hoch: „Bis zum Tag XY ist für alle Mitarbeiter der Region (immerhin etliche hundert) von mir eine Aufgaben- und Zielvereinbarung zu finalisieren“ - was zwar in diesem Rahmen gar nie zu meinen Obliegenheiten gehört hat, aber dessen ungeachtet eine völlig unrealistische Forderung darstellt. Oder: „Bis Monatsende ist von der eigenen operativ/strategischen Einheit noch soundso viel Volumen vom Produkt GG zu verkaufen“. Oder: „Bis Jahresende ist ein Ziel (neuerdings Budget genannt) von XXX.XXX,XX zu erreichen“ – Utopie pur

  Und wenn der Betroffene, in diesem Falle ich, aus dem Schlaf schweißgebadet hochschreckt, ja, dann ist Handlungsbedarf. Sich entweder einem Therapeuten anvertrauen oder …

  Machen wir aber noch einen kurzen Abstecher in den Herbst 1996. Es ist bereits einige wenige Jahre her, da sah ich auf diversen Litfaßsäulen Plakate angeschlagen: „Der Jakobsweg, Diavortrag“. Noch nie davon gehört, klingt stark religiös angehaucht, interessiert mich nicht, und ich habe sowieso keine Zeit, die Veranstaltung zu besuchen. Punktum. Irgendwie, keine Ahnung, warum, blieb die Sache aber im Kopf. Primär eigentlich wegen der sportlichen Herausforderung.

  Wie das Schicksal so wollte, erschien wenige Monate vor meinem letzten Arbeitstag in der Mitarbeiterzeitung ein Artikel einer pensionierten Kollegin, die mit ihrem Lebensgefährten den Jakobsweg ab Wien bis Santiago de Compostela, one way, zu Fuß marschierte. Die Rückreise fand mit dem Flugzeug statt. Ich roch Lunte und kaufte mir das von den beiden veröffentlichte Buch. Auch in den Katalogen des Buchversandes fiel mir jetzt immer wieder diese Thematik auf. Und so begann ich auch im Internet zu stöbern.

  Dann war plötzlich von einem Tag auf den anderen alles ganz anders. Zwei Monate vor Jahresende 2006, es war im Unternehmen wie üblich Stress pur, da machte es „schnalz“ und ich war mit einem doppelten Bandscheibenvorfall L4, L5 konfrontiert. Krankenstand? Doch nicht ich! Ich lasse mir sicherlich nichts nachsagen wie: „Na ja, da geht er in zwei Monaten in Pension und jetzt noch schnell in Krankenstand …“ Na sicherlich nicht mit mir! Nach Röntgen und MRT fragte mich der Orthopäde, wann ich Zeit für eine Operation habe. Meine Antwort kam prompt: „Erst werden alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft!“ Wir starteten mit Infusionen, Strom, Massagen, Injektionen – alles ergebnislos. Mein Röntgenarzt erklärte mir genau, was da passiert war. Aus den betroffenen Bandscheiben sei ihr gallertartiges Inneres teilweise ausgetreten, dieses drücke jetzt auf diverse Nerven. Aber innerhalb der nächsten sechs Monate trockne das ab, verliere an Volumen und werde vom Gewebe aufgesaugt. Daher gebe es dann auch kein Druck mehr auf die Nerven und demzufolge keine weiteren Schmerzen. Wenn ich es richtig verstanden habe, dann verringere sich in sechs Monaten das Volumen der betroffenen Bandscheiben um das Ausgetretene, aber die Beschwerden sollten eigentlich weg sein. Für den Moment allerdings nicht sehr trostreich!

  Ich bewegte mich also weiterhin wie ein U-Hakerl und hatte Schmerzen rund um die Uhr. Mein Bruder empfahl mir einen Arzt, der TCM praktiziert. Ich ergriff mittlerweile jeden Strohhalm. Nach mehr als einem Dutzend Akupunktursitzungen war ich beschwerdefrei. So gesprächsweise erzählte ich dem Arzt, in welchem Unternehmen ich arbeite, und er ließ mich wissen, dass eine stattliche Anzahl der Mitarbeiter besagter Firma bei ihm mit diesen und ähnlichen Beschwerden in Behandlung sind und er sehr gut weiß, welcher Druck auf den Leuten lastet. Ich erzählte ihm von meiner Zukunftsplanung und irgendwie fiel der Terminus „Jakobsweg“. Seine Ansage: Vergessen Sie es! Wandern, und das mit Rucksack, in Ihrem Zustand, niemals … Aber Radfahren tut Ihnen sicherlich gut …“

 

 

Sonntag 13.05.2007 –Äolus ist mir hold

 

  0400 Uhr Tagwache. 0515 Uhr Transport des Fahrrades, Trailers und Gepäcks (zwei Gepäckträger- und eine Lenkertasche, NATO-Liege, eine große wasserabweisende Tasche, ein wasserdichter Sack, Zelt, Rucksack, Abdeckplane und Gurten sowie Gummispanner und Helm) in die Garage. Beim Beladen des bereits angehängten Trailers fällt das Rad um und das neu montierte Rücklicht bricht ab. Endlich ist alles aufgeladen und befestigt.

  Ich wuchte das Gespann aus der Tiefgarage und radle zur U-Bahn. Dort fahre ich mit dem Aufzug ins Untergeschoss, mit quer gestelltem Lenker geht sich das gerade noch mit der Länge der Aufzugkabine aus. Ich muss nicht warten, denn schon fährt eine U-Bahn-Garnitur ein und ich schiebe das Gespann hinein. Ein solcher Transport ist sicherlich auch für die U-Bahn eine Novität. Während der Fahrt zum Stephansplatz fällt bei einem Bremsmanöver der Bahn der Anhänger aufgrund seines hohen Schwerpunktes um, wobei ein Frontlicht abbricht. In der ersten Stunde der Reise bereits ganz schön viel Verschleiß!

  Ziemlich mühevoll und reichlich chaotisch gestaltet sich das Aussteigen. Da am Stephansplatz der Ausstieg auf derselben Seite ist wie der Einstieg in der Station Kendlerstraße, muss ich rückwärtsschiebend den Waggon verlassen. Die kleinen Räder des Anhängers können jedoch den Spalt zwischen Waggon und Fahrsteig nicht ohne Unterstützung überwinden. Ich müsste zur gleichen Zeit hinten ziehen und vorne das Rad in der Balance halten – das geht nicht. Um diese Uhrzeit sind an einem Sonntag, heute ist zusätzlich Muttertag, noch nicht viele Fahrgäste mit der U3 unterwegs. Auf mein Ersuchen hält ein noch ziemlich verschlafenes Mädel den Lenker des Scott-Mountainbikes, während ich am Anhänger zerre. Mit vereinten Kräften schaffen wir es.

  Die Lifte in dieser U-Bahnstation habe ich an einem der vorhergehenden Tage auf Kabinengröße gecheckt, der erste ist ausreichend groß, im zweiten müsste ich das Rad hochkippen. Letzteres erledigt sich von selbst, da der Lift außer Betrieb ist. So stehe ich im Zwischengeschoss, in der Nische der Virgilkapelle, dem Stammplatz der U1-Stephansplatz-Sandler. Hier kauern tatsächlich etliche, mit Dopplern bewaffnet, und beobachten mich ziemlich verständnislos. Ich hänge den Trailer ab und bringe ihn per Rolltreppe ans Tageslicht, stelle ihn ab und hole im zweiten Durchgang das Fahrrad. Beides wieder miteinander verbunden, bin ich fast startklar, jetzt fehlt nur noch das Abschiedsfoto. Ich stehe zwischen dem nach meinem Empfinden am Stephansplatz stilistisch deplatzierten Haas-Haus, in dessen Glasfassade sich fragil die Dauerbaustelle des Wiener Stephansdomes spiegelt, auf dem jüngst noch das überdimensionale Transparent eines Versicherungsunternehmens prangte, und dem Dom selbst. Der Platz ist erwartungsgemäß so gut wie menschenleer, ein passierender asiatischer Tourist macht auf mein Ersuchen freudig – Fuji-time - das gewünschte Foto von mir und meinem fahrbaren Untersatz. Ich mache selbst auch noch einige Fotos mit der Kamera am Stativ montiert.

  Um 0645 Uhr ist endgültige Abfahrt. Über die um diese Tageszeit noch ausgestorbene Rotenturmstraße zum Kai. Sonnenschein und 18 Grad Celsius sind angenehme Bedingungen zum Radfahren. Ich folge dem markierten Radweg und stehe plötzlich vor einer Treppe mit circa 30 Stufen. Ein unüberwindbares Hindernis, macht doch schon eine Randsteinkante Probleme. Also ein paar hundert Meter zurück und auf der Straße um das Hindernis herumfahren.

  Nach sechs geradelten Kilometern, ich habe soeben Nussdorf passiert, stelle ich sachlich fest, dass etwa ein Tausendstel der geplanten Gesamtstrecke gefahren ist. Das nur für die Statistik. Warum nur etwa? Zum Unterschied von vergangenen Reisen, zum Beispiel in den Siebzigern bei Autofahrten nach Griechenland, damals hatte ich exakt die Route einschließlich genauer Kilometerangaben und Zeitplanung festgelegt, habe ich diesmal vieles offen gelassen. Klar ist nur der Ort des Starts sowie des Zieles. Nahezu keine Gedanken habe ich mir bis jetzt noch über die Route zurück gemacht, es darf nur nicht dieselbe Strecke sein. Die Zeitplanung, abhängig von unterschiedlicher Tageskilometerleistung, Wetter, Topografie der Strecke sowie körperlicher Verfassung war somit gleichfalls weitgehend offen. So ergab die grobe Schätzung 6000 Kilometer in 100 Tagen. Wie ermittelte ich die durchschnittlich 60 Kilometer/Tag? Im Zuge der Vorbereitung wurde klar, dass ich mit diversen Sattel- und Lenkertaschen nicht das Auslangen finden werde. Taschen am Vorderrad lehne ich aus Prinzip ab. Sie wären außerdem ohnedies unzureichend gewesen. Also bot sich die Variante des Anhängers an, und mit dieser konnte ich mich nach einer Probefahrt gut anfreunden. Diese Probefahrt führte mich durch den Wienerwald, bergauf, bergab mit 35 Kilogramm Ballast in Form eines Wassertanks plus Hängergewicht von 11 Kilogramm. „Mehr wird’s wohl nicht werden“, so dachte ich. Gestartet bin ich schließlich mit 80 Kilogramm, Hänger inklusive. Dabei habe ich mich wirklich bemüht, Gewicht zu reduzieren. Ich habe beispielsweise auf einer sich selbstaufblasenden Isomatte daheim Probe geschlafen, Ergebnis: Kreuz- und Hüftschmerzen am folgenden Morgen. Ich habe es mit zweien übereinander versucht, Ergebnisse nahezu ident. Also doch die schwerere, aber bereits bewährte NATO-Liege. Ich habe x-mal überlegt: „Was lasse ich zu Hause?“ Schließlich trennte ich mich von einem Stromverteiler. Ich kann ja Digitalkamera und Mobiltelefon auch hintereinander laden. Gewichtsersparnis ungefähr 1 Kilogramm!

  Punkto Gepäck ist vielleicht auch mein persönlicher Zugang nach vielen Reisen mit dem Wohnmobil etwas großzügiger. Da wird halt munter eingeladen. Aber niemandem gegenüber ist eine Rechtfertigung erforderlich, denn: Strampeln muss ich ja ohnedies selbst!

  Vorbei an der Schleuse Nussdorf geht es rasch zur Radfähre Greifenstein, wo ich Apfelrast mache. Ich hatte bis jetzt Wind aus Süd, also von schräg hinten, sehr angenehm und ich assoziiere: Ich soll weg von Wien – meine Entscheidung, das, was ich vorhabe zu tun, wird vom Gott der Winde unterstützt! Ich pausiere einige Minuten auf einer Bank in der Sonne, die Temperatur ist mittlerweile auf 28 Grad gestiegen. Wo in Tulln die Straßenbrücke über die Donau führt, vergönne ich mir eine kurze Verschnaufpause. Mittlerweile bin ich 60 km gefahren, also ein Hundertstel meiner angedachten Reise, das klingt doch schon viel besser.

  Um 1500 Uhr dreht der Wind auf West, weht mir also genau auf die Nase. Bei gefahrenem Kilometer 80 beginnen die Schenkel zu brennen, ein Zeichen, es für den ersten Tag gut sein zu lassen. Um 1810 Uhr steht das Zelt auf dem Campingplatz Rossatzbach und das erste Bier ist getrunken. Die Wirtin, sie hat mein Equipment anlässlich des Eincheckens gesehen, spricht mich auf meine geplante Reise an und macht beiläufig die Bemerkung, dass Freunde von ihr einen Zwei- oder Dreitagesradausflug machten, wobei einer die Fahrt mit Anhänger begann, diesen aber vorzeitig aufgrund der Mühsal stehen ließ. Mal sehen, was ich aus dieser Information mache.

  Während des Abendessens, es gibt eine mittels Benzinkocher zubereitete indonesische Reispfanne, wobei der Kocher neben mir auf der Holzbank steht (die Bedeutung dieser Tatsache beziehungsweise das Risiko dieser Handlungsweise wird mir erst etliche Tage später bewusst), mache ich die Bekanntschaft meines Zeltnachbarn Mike. Er ist Uniprofessor an der Boku in Wien, kommt aber eigentlich aus Kalifornien, in der Nähe von Los Angeles. Er ist mit dem von einem seiner Studenten geliehenen Rad Donau abwärts unterwegs. Wir quatschen ein bisschen, ich fotografiere noch die mittlerweile nächtliche Kulisse am gegenüberliegenden Donauufer: Dürnstein beleuchtet, eine tolle Stimmung mit dem reflektierten Lichterschein auf den Wellen der Donau. Nach einem zweiten Bier gehe ich schlafen.